Aus: Zeitschrift Netz 2–07, Pflegekinder-Aktion Schweiz, www.pflegekinder.ch, von Silvia Schenk
Die grosse Kunst: Im Notfall schnell und gut platzieren
Wenn Thomas Bont, Leiter der «Puzzle Vermittlung von Gastfamilien», eine Notfallplatzierung vornehmen muss, greift er in der Regel zum Arbeitsinstrument «Familiensteckbrief.» Aktuell führt er Dossiers über 28 Familien, die für die Notaufnahme eines Kindes abgeklärt und bereit sind, für wenige Tage bis drei Monate ein Kind in ihrer Gastfamilie aufzunehmen.
Bei einer Toggenburger Vormundschaftsbehörde klingelt das Telefon. Ein Polizist aus B. meldet, dass sich eine Mutter bei ihm auf dem Posten befinde, die sofort in die Klinik gebracht werden müsse. Da sei aber noch ein kleines Kind, ein Mädchen: «Wohin können wir es bringen?», will er wissen. Die Vormundschaftssekretärin ruft Thomas Bont, den Leiter der «Puzzle Vermittlung von Gastfamilien» in St. Gallen an mit dem Auftrag, eine Notplatzierung in die Wege zu leiten. Thomas Bont lässt in Gedanken die ihm bekannten SOS-Familien Revue passieren. Unzählige Wenn und Aber schiessen ihm durch den Kopf: Ein ihm gut bekanntes Paar wohnt in der Nähe des besagten Polizeipostens. Allerdings hat diese Familie selber ein kleines Pflegekind. Ob das Mädchen da hineinpasst? Oder andersrum gefragt: Passt dieses Familiensystem zu dem ihm unbekannten Kind? Eigentlich achtet er darauf, dass ein zu platzierendes Kind das jüngste Puzzle-Teilchen ist. Die Zeit drängt. Er muss handeln. Kurz entschlossen ruft er die Familie an und erhält zu seiner Erleichterung eine spontane Zusage. Das hat er noch nie erlebt – eine Notfallplatzierung, die so schnell über die Bühne gegangen ist. In der Regel hat er mehr Zeit, um der aufnehmenden Familie wenigstens ein Minimum an Informationen geben zu können. Diesmal ist alles anders.
Anforderungen an Puzzle-Familien
Die Frage, ob und in welchem Fall eine Familie zum Einsatz kommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Alle potenziellen Pflegefamilien müssen – unabhängig von der Kinder- und Jugendhilfe – ein gesichertes Einkommen haben, damit unbelastet platziert werden kann. Aktive, engagierte und motivierte Paare, die sich weiterbilden und auf ihren Erfahrungen aufbauen können, werden bevorzugt. Alle interessierten Familien, deren Dossier bei der KJH liegt, werden viermal jährlich zu einem Treffen eingeladen, um Erfahrungen auszutauschen, sich zu vernetzen und Kontakt zu pflegen. Es besteht laufend Bedarf an neuen Familien.
Die Puzzle-Gastfamilien verfügen über eine soziale oder pädagogische Ausbildung oder/und ausgewiesene Erfahrung. Sie zeichnen sich aus durch Tragfähigkeit, Belastbarkeit, Flexibilität und Verschwiegenheit. Ihre Haltung gegenüber der Herkunftsfamilie ist wertschätzend.
Der Leiter des platzierenden Dienstes pflegt eine offene Kommunikation mit den aufnehmenden Familien. Er fragt sich: «Was braucht diese Familie, damit sie den Betreuungsauftrag erfüllen kann und nicht in die Wiederholungsfalle tritt?» Ein Beispiel: «Wenn ein Kind in seiner Herkunftsfamilie geschlagen wurde, wird es die Pflegeeltern provozieren, bis sie gleich reagieren wie die Eltern. Darum müssen spezielle Vorfälle, die das Kind betreffen, seine Geschichte und die Thematik, die es mitbringt, der aufnehmenden Familie bekannt sein.»
Eine überfallartige erste Begegnung
Die Puzzle-Gastmutter Prisca Hefter hat besagten Novembernachmittag in lebhafter Erinnerung: «Gegen 17 Uhr rief uns Thomas Bont an und fragte, ob wir bereit wären, ein vierjähriges Mädchen aufzunehmen, dessen Mutter in die psychiatrische Klinik gebracht werden müsse.» Prisca Hefter erklärte sich einverstanden, informierte ihren Mann, der noch bei der Arbeit war und dem unverhofften Familienzuwachs zustimmte. Eine knappe Stunde später fuhr der Streifenwagen vor. «Der eine der Polizisten blieb bei der Mutter im Auto, der andere kam mit dem Mädchen auf dem Arm zur Haustüre. Die Kleine trug eine kurze Hose und Moon Boots», schildert die Pflegemutter ihre ersten Eindrücke. «Der Polizist wirkte auf mich ganz verdattert. Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm das Kind abnahm.»
Vom ersten Telefonanruf bis zur Platzierungen sind knapp drei Stunden verstrichen. Prisca Hefter geht mit Vanessa* ins Wohnzimmer. Schlagartig verändert sich die Atmosphäre im Haus. Das Nachtessen verläuft unruhig, und in der Nacht ist nicht an Schlaf zu denken. Anstatt sich ins Bett zu legen, kriecht Vanessa schreiend darunter und lässt sich nicht mehr blicken. Erst als Prisca Hefter mit Hilfe von Puppen mit ihr redet, wird sie etwas ruhiger. Pflegevater Wolfgang Frommelt, der später nach Hause kommt, findet eine erschöpfte Frau und ein schreiendes Kind vor. Auch für ihn ist diese erste Nacht noch sehr gegenwärtig: «Ich sehe noch immer, wie ich morgens um halb drei im Kinderzimmer am Boden sitze und mit Bauklötzchen spiele.»
Zeit für Abklärungen
Am nächsten Tag trifft sich der Puzzle-Leiter Thomas Bont mit der Vormundschaftssekretärin bei der Familie Hefter Frommelt für eine Bestandesaufnahme und zur Klärung des Auftrages. Nun, da er Vanessa gut untergebracht weiss, kann er sich Zeit nehmen, den Hintergründen des Notfalls nachzugehen.
Die Vormundschaftssekretärin teilt ihm mit, dass das Mädchen schon seit einiger Zeit den Kindergarten nicht mehr besuchen durfte, weshalb bereits Massnahmen für eine sozialpädagogische Familienbegleitung bestehen – allerdings gegen den Willen der psychisch kranken Mutter. Einzig einer Betreuerin eines Heilpädagogischen Dienstes gewährte sie zweimal pro Woche Einlass. So gibt es wenigstens eine Fachperson, die das Umfeld ein wenig kennt. Obwohl die angeordneten Massnahmen nichts fruchteten, hatte die Behörde keine stichhaltigen Gründe für eine frühere Intervention. Der klassische Fall von «warten, bis etwas passiert» trat ein. Erst die Verschlechterung des psychischen Zustandes der Mutter und ihre Einweisung in die Klinik geben der Fall führenden Behörde den nötigen Handlungsspielraum.
Unglücklicherweise führt ein personeller Engpass bei der Amtsvormundschaft dazu, dass niemand Vanessas Beistandschaft übernehmen kann. Thomas Bont wehrt sich dagegen, dass ein ehrenamtlicher Laienbeistand eingesetzt wird. Er bietet der Vormundschaftsbehörde an, sich um die Anschlusslösung zu sorgen, bis die Beistandschaft errichtet ist.
In der Beschreibung des Puzzle-Angebotes steht: «Die Notplatzierung erfolgt kurzfristig für die Dauer von einigen Tagen bis etwa drei Monaten. Es ist eine Übergangslösung mit dem Ziel, den Schutz des Kindes zu gewährleisten. Dadurch wird die Familiensituation entlastet und die Krisensituation beruhigt. Während der Notplatzierung wird die Zukunftsperspektive des Kindes geklärt und eine Anschlusslösung in tragfähige Verhältnisse gesucht.» Mit diesen Zielvorgaben fragt sich der Puzzle-Leiter: «Was geschieht mit Vanessa, wenn sich die Mutter erholt hat und wieder in ihre Wohnung zurückkehrt? Ist eine Rückplatzierung möglich? Wenn ja, welche begleitenden Massnahmen sind nötig? Ist auch eine Tagesbetreuung denkbar, oder braucht es einen Dauerpflegeplatz, sogar bei einer professionellen Familie?»
Wie geht es dem Kind?
Zuerst will Thomas Bont das Mädchen kennen lernen, um sich ein differenziertes Bild über dessen Gesundheit und Verhalten zu machen. Dabei sind die SOS-Pflegeeltern wichtige Gesprächspartner und Informationsträger. Sie haben die Aufgabe, genau zu beobachten, ihre Erlebnisse mit dem Kind zu beschreiben und ihre Wahrnehmungen zu schildern. Ihre Aussagen sind für die Entscheidungsfindung von Bedeutung.
Die Pflegeeltern Hefter Frommelt stellen fest, dass Vanessa unsicher und ohne Halt ist, dass sie kein Vertrauen hat, kein Verhältnis zu Nähe und Distanz. Es gibt für sie keine «fremden Leute». Sie hat kein Repertoire an kindlichen Beschäftigungen, sie kann weder spielen, noch malen oder zeichnen. Bereits am frühen Morgen möchte sie fernsehen. Andererseits kann sie bereits Tee oder warme Milch zubereiten und weiss, dass eine Cocktailsauce entsteht, wenn man Ketchup mit Mayonnaise mischt. Im Umgang mit dem jüngeren Pflegekind der Gastfamilie ist sie unberechenbar. Es wird für alle Beteiligten immer offensichtlicher, dass dieses vierjährige Mädchen schon viel Schwieriges erlebt hat. Sein Verhalten ist so auffällig, dass Thomas Bont von einem seelisch verletzten, vernachlässigten Kind spricht, das keinerlei natürliche Regulierung kennt und eine Bindungsstörung hat.
Er ist sich bewusst, dass die SOS-Pflegefamilie vor einer grossen Belastungsprobe steht. Alle wissen, dass es anstrengend und dynamisch wird für die kleine Familie. Doch die Dauer des Arbeitseinsatzes ist überblickbar.
An die Grenze der Kräfte stossen
Während dieser Abklärungsphase bemüht sich die Puzzle-Gastfamilie intensiv um einen geregelten Tagesablauf, in dem sich Vanessa wohl und eingebunden fühlen kann. Das ist allerdings ein sehr schwieriges Unterfangen und stellt die Belastbarkeit der Familie auf eine harte Probe. Entlastungsmöglichkeiten gibt es so gut wie keine, denn Vanessa demontiert auch in anderen Haushalten die Wohnungseinrichtungen. Es gibt niemanden, der das Mädchen für länger als eine Stunde oder gar ein zweites Mal «hüten» will. Dass Vanessa den Kindergarten auch am Wohnort der Gastfamilie nicht besuchen kann, ist ein Entscheid, den die Pflegeeltern im Nachhinein in Frage stellen. Sie haben dadurch während der ganzen Platzierungsphase keine freie Minute. Und je länger diese Platzierung dauert, desto mehr spüren sie die wachsende Spannung.
Vanessa ist ihre weitaus schwierigste Herausforderung. Noch nie zuvor kamen sie mit einem Pflegekind so nahe an den Rand ihrer Kräfte. Rückblickend und wahrscheinlich auch im Hinblick auf eine nächste Platzierung wissen sie, was sie brauchen: Supervision und eine Entlastungsfamilie.
Eine professionelle Anschlusslösung suchen
Dass diese Notfallplatzierung die üblichen drei Monate überschreitet und fünfeinhalb Monate dauert, hat mehrere Gründe: die Verzögerung bei der Errichtung der Beistandschaft aufgrund des Stellenwechsels bei der Amtsvormundschaft, eine ablehnende Haltung der Mutter gegenüber einer Dauerplatzierung, ein zweites rechtliches Gehör der Behörde sowie das Einfädeln des Anschlussplatzes.
Thomas Bont übernimmt die Suche nach einer professionellen Pflegefamilie. Diese Platzierungsform empfiehlt er nach Rücksprache mit der Betreuerin des Heilpädagogischen Dienstes, weil die Mutter nicht in der Lage ist, Vanessa die nötige Kontinuität und Stabilität zu bieten. Vanessas Verhalten zeigt deutlich, dass sie ein gefährdetes Kind ist. Ihr Umgang mit Nähe und Distanz ist sehr auffällig. Da sie lange Zeit mit ihrer Mutter in einer emotional sehr schwierigen und unberechenbaren Situation lebte, entwickelte sich bei ihr ein unsicheres Bindungsmuster. Sie hat wenig Halt und Vertrauen und braucht deshalb klare Strukturen und Bezugspersonen, die verlässlich sind, Verständnis und einen langen Atem haben und Grenzen setzen können. Andererseits müssen die zukünftigen Pflegeeltern mit der Mutter eine konstruktive Zusammenarbeit entwickeln, damit das Pflegeverhältnis gelingt und Vanessa gefördert werden kann.
Der Verein Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen
Die Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen mit Beratungsstellen in St. Gallen und Sargans bietet Erziehungs- und Familienberatung, Jugendberatung, Wohnraum für Jugendliche und Vermittlung von Gastfamilien. Die KJH – eine professionelle Institution mit 560 Stellenprozenten – ist ein Verein und ein Sozialwerk des Bistums St. Gallen. Das Einzugsgebiet umfasst die Kantone St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden.
Thomas Bont leitet den Bereich Puzzle, Vermittlung von Gastfamilien, den er 1999 als Projektleiter aufgebaut hat. www.kjh.ch